Der Einfluss von Achtsamkeit auf die Stimmung aus Sicht der Buddhistischen Lehre
Unter Achtsamkeit wird eine Form der Aufmerksamkeitslenkung verstanden, die “absichtsvoll und nichtwertend das Hier und Jetzt fokussiert” (Mander & Blanck, 2018). Den Autoren zufolge sei das Achtsamkeitsprinzip schon in den frühen buddhistischen Schriften zu finden; in die gegenwärtige Psychotherapie sei es insbesondere in die „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ und die „Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie“ eingeflossen. In beiden Ansätzen werde die Technik innerhalb sowie außerhalb der Sitzungen geübt. Die Wirksamkeit des Ansatzes sei empirisch gut belegt.
Ich bin der persönlichen Auffassung, dass es sich stets lohnt, über den Tellerrand des eigenen Wissenshorizonts und auch der eigenen fachlichen Disziplin hinwegzublicken, weswegen ich mich kurzerhand für uns beide (für Sie wie mich selbst) virtuell in den Workshop einer buddhistischen Nonne setzte, deren Aufnahmen (damals noch auf Tonbändern) ich bereits in der Zeit meines Psychologie-Studiums hörte und die mich fesselten. Die folgenden Ausführungen bieten eine Zusammenfassung über meine persönlichen Schlussfolgerungen aus dem Vortrag und zielen darauf auf, uns beiden die Technik leicht verständlich wiederzugeben, sodass wir diese Übung im Laufe unseres Alltags immer wieder praktizieren können.
1. Das Ziel
Aus Sicht der Vortragenden sei das Ziel der Achtsamkeit die Selbstläuterung; diese könne gewissermaßen durch einen Zustand inneren Friedens erfahren werden. Der Buddhismus geht davon aus, dass wir Menschen ständig dem Trugschluss unterliegen, die Ursachen für unsere Traurigkeit, unsere Wut und unsere Einsamkeit würden da draußen in der Welt liegen: Der Partner sei nach Jahren der Ehe nicht mehr liebevoll mit einem, die Mutter sei stets abweisend und kalt gewesen, die Schulkollegen hätten einen von der Gruppe ausgeschlossen oder aber die Chefin habe einen so lange unter Druck gesetzt, bis einem nichts anderes übrig geblieben sei, als in den Krankenstand und ins Burnout zu gehen. Tatsächlich besteht ein Teil der psychotherapeutischen Arbeit darin, die vermeintlichen Ursachen festzustellen, die den heutigen Zustand erklären sollen: Den Zustand von Depression, Trinksucht oder wiederkehrenden Panikattacken.
Dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen einer lieblosen Beziehung, einer kalten Mutter, Mobbing in der Schule oder Druck am Arbeitsplatz und psychischen Symptomen wie Depression, Angst und Selbstablehnung besteht, daran besteht nach Jahrzehnten der klinischen Forschung überhaupt kein Zweifel mehr. In der klinischen Psychologie können psychische Symptome aber auch unter dem Aspekt einer unangepassten Realitätsbewältigung betrachtet werden: Depression als dysfunktionale Antwort auf das subjektive Erleben, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können; Trinksucht als selbst-destruktiver Versuch, die inneren Spannungen abzubauen; Angst als (zugegebenermaßen triftigen) Grund, sich einer bestimmten Situation nicht stellen zu müssen. Die drei (exemplarisch) aufgezählten Symptome - Depression, Alkoholismus und Angst - haben allesamt einen gemeinsamen Nenner: Sie haben Gewohnheitscharakter. Das bedeutet, dass diese Verhaltensweisen durch Lernmechanismen des Gehirns (Belohnung und Bestrafung) so lange trainiert wurden, bis sie sich verselbständigten und zur Gewohnheit wurden. Depression als gewohnheitsmäßig negatives Denken? Ja! Trinksucht als automatisierter (weil wiederholt durch positive Gefühle verstärkter) Griff zur Flasche? Ja! Angst als antrainiertes Verhalten, welches die Vermeidung von Gefühlen der Unsicherheit und des Kontrollverlusts garantiert? Ja!
Die drei aufgezählten Symptome haben aber noch ein weiteres gemeinsames Merkmal: Sie fühlen sich äußerst schlecht an! Depression äußert sich als Traurigkeit, Hoffnungs- und Antriebslosigkeit; Trinksucht als Unruhe und Zustand erhöhter Spannung und Unruhe; Angst als quälendes Gefühl, nirgendwo sicherer zu sein als in den eigenen vier Wänden (wenn überhaupt). Dass wiederholte Verhaltensweisen, wenn hinlänglich trainiert, zu einer grundlegend negativen Gefühlslage führen, das hat nicht nur die Kognitive Verhaltenstherapie in den 70er-Jahren entdeckt, sondern das wusste bereits G. Buddha im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung! Und was schlägt der Buddhismus vor, wenn man diesen Umstand erst einmal erkannt hat? Etwas dagegen zu unternehmen!
2. Die Methode
Und hier folgt die Anleitung, was wir beide gegen unsere negative Gefühlslage unternehmen können; Sie für Ihre persönliche, negative Gefühlslage, und ich für meine:
(a) Untersuchen wir unsere Gemütsstimmungen: Was fühlen wir wirklich tief in uns selbst? Um beispielsweise zu erkennen, dass mir der Konflikt in der Ukraine Angst macht, greife ich auf bestehende Angstreaktionen und -gefühle in mir selbst zurück; die Angst ist also in mir selbst. Ein anderes Beispiel: Eine Person erscheint mir aggressiv; um die Aggression im Verhalten der Person richtig erkennen und deuten zu können, muss ich zuerst auf in mir selbst bestehende Gefühle der Aggression zurückgreifen. Oder: Ich empfinde, dass meine Partnerin anderen Menschen gegenüber entwertend ist; um die Entwertung meiner Partnerin richtig erkennen und deuten zu können, gedenke ich der Momente, in denen ich selbst andere Menschen entwerte(te). Diese Leistung des Gehirns (auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen, um eine Situation richtig deuten zu können) erfolgt ganz automatisch, und zwar im biografischen Gedächtnis und im assoziativen Cortex. Die Gefühle, die wir im jeweiligen Moment erleben, sind in uns selbst angesiedelt und nicht da draußen in der Welt! In der buddhistischen Tradition ist die Erkenntnis, dass alles Erlebte in uns selbst angesiedelt ist, der erste Schritt zur Achtsamkeit; und, sie ist zugleich eine neurobiologische Wahrheit, die in der Natur unserer Gehirne begraben liegt. A. Khema betont in ihrem Vortrag, wie wichtig es sei, Gemütsstimmungen richtig zu erkennen, bevor sie in Gedanken, in Emotionen und vor allem in Reaktionen ausarten (sprich, bevor wir im Außen allzu voreilige Handlungen setzen, noch bevor wir innerlich etwas unternehmen).
(b) Nach der Untersuchung der Gemütsstimmung erfolgt die Umwandlung von Ablehnung und Widerwillen. Die buddhistische Tradition nennt dies - so geht es aus dem Vortrag hervor - “Ersetzen mit dem Gegenteil”; was A. Khema als “äußerst schwierig” bezeichnet. Der Grund für die Schwierigkeit sei ihr zufolge der, dass die negativen Gemütsstimmungen eben so stark seien (sprich, die Depression, die Trinksucht oder die Angst). Deswegen schlägt die Vortragende vor, anstatt des Ersetzens mit dem Gegenteil eine gründliche Untersuchung von sich selbst anzustreben: “Wieso habe ich tatsächlich diese Gemütsstimmung? Liegt das Problem da draußen in der Welt? Ist die Welt tatsächlich so schlecht, wie ich das gerade wahrnehme? Oder ist es vielmehr so, dass ich (noch immer) nicht akzeptiere, dass die Welt da draußen scheinbar so schlecht (oder nicht meinen persönlichen Erwartungen entsprechend) agiert?”. Aus Sicht Khemas sei es tatsächlich “unvernünftig”, die Umwelt abzulehnen; vernünftig hingegen sei es, die Welt so anzunehmen, wie sie eben sei. Denn, wir können die Welt ohnedies nicht verändern. Die gründliche Untersuchung von sich selbst bedürfe “innerer Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit”.
(c) Etikettierung abschweifender Gedanken. Was passiert nun, wenn ich bei der Untersuchung meiner Gemütsstimmungen draufkomme, dass ich wütend auf meine Partnerin bin, weil sie mich vermeintlich kritisiert? Oder, weil ich mich von meinem Chef degradiert fühle? Oder, weil ich wütend über die jüngsten Corona-Maßnahmen bin? Hierzu gibt die buddhistische Tradition eine Hilfestellung, die zugegebenermaßen eine ideologische Komponente hat: Und zwar sollte es möglich sein, jeden (unheilsamen) Gedanken mehr oder weniger eindeutig einer von fünf Kategorien zuzuordnen: I. Sinnliche Begierde; II. Übelwollen (Ärger und Ablehnung); III. Geistige Lässigkeit und Trägheit; IV. Unruhe und Rastlosigkeit; und, V. Zweifelsucht. Zur Verdeutlichung: Sinnliche Begierde beruht auf dem Trugschluss, ich würde endlich glücklich sein, wenn ich die eine oder den anderen PartnerIn bekomme; mehr Geld verdiene; das neueste iPhone besitze. Übelwollen äußere sich immer dann, wenn ich überzeugt bin, die Welt würde nicht so laufen, wie ich es für richtig befinde; eigentlich sei das Tempo-100-Limit für die Reduktion der Feinstaubbelastung unsinnig; das größte Problem sei die Korruption in der Regierung (was ja nicht ganz unrichtig ist); und warum man genau jetzt die Öko-Steuer einführen solle, das sei doch völlig widersinnig (ich wähle hier ganz bewusst Argumente, die in der gegenwärtigen Debatte äußerst wichtig sind und die auch tatsächlich gelöst werden sollten). Unruhe und Rastlosigkeit befallen uns aus buddhistischer Sicht immer dann, wenn wir uns mit dem, was gerade ist, nicht zufriedengeben wollen: “Ich muss in dieser Situation doch etwas unternehmen!”; die Gefühle von Unruhe und Rastlosigkeit würden sich - vor dem Hintergrund einer, zugegebenermaßen, unperfekten Welt - im ständigen Streben nach Veränderung widerspiegeln (sind Sie nach dem Lesen dieser Zeilen noch immer überzeugte Veganerin?). Als letztes “Hindernis” (oder Etikette) bezeichnet A. Khema die Zweifelsucht; die Unfähigkeit, sich bedingungslos hingeben zu können; dieser Gedanke habe, so führt sie aus, weitreichende Konsequenzen für die Liebesfähigkeit eines Menschen: Anfängliches Misstrauen und Distanz sowie nachfolgend erworbenes Vertrauen und Glauben an die eine oder die andere Person seien lediglich Anhänglichkeiten, nicht jedoch Liebe; denn: Aus Sicht der Buddhisten gebe es gar niemanden da draußen, der unser Vertrauen missbrauchen könnte. Und sollten Sie im einen oder anderen Moment die richtige Etikette für den soeben gefassten Gedanken gefunden haben und letzteren als “unheilsam” entlarvt haben, dann: Nicht anderen die Schuld dafür geben, sondern den Gedanken urteilsfrei und wohlwollend annehmen, wie er ist.
(d) Lenken der Gedanken auf Positives. Dies ist der letzte Schritt in der Übung der Achtsamkeit, und wenn Sie sich nun fragen, worin die buddhistische Tradition überhaupt noch etwas Positives zu erkennen glaubt, was nicht einer der fünf Etiketten zuzuordnen ist, dann halten Sie sich fest: Die Vergänglichkeit, das Leiden und die Substanzlosigkeit. Sie haben richtig gelesen, darüber sollen wir beide jetzt nachdenken, und zwar wirklich nachdenken! Vielleicht zur Hilfestellung: Wenn Sie sich gerade dabei ertappen, dass sich die Gaspreise infolge der Ukraine-Krise verachtfacht haben, dann stellen Sie sich bitte augenblicklich vor, wie sehr der irdische Gaspreis eine Marsianerin 890 Tsd. nach Chr. jucken wird. Sie lächeln bei diesem Gedanken? Übung erfolgreich bestanden!
3. Resümee
Vielleicht konnte ich die Lust in Ihnen erwecken, sich ein wenig in Achtsamkeit zu üben. Ist ja ganz einfach, 16 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr, jeden Augenblick Ihres Daseins. Solange Sie aber mit dem Üben beschäftigt sind, werde ich mich verabschieden und die Zeit nutzen, die letzten iPhone-Modelle zu studieren; oder eine Petition für die Flüchtlinge aus Pakistan in Europa zu verfassen; oder so ziemlich jeden Satz in diesem Text, den ich soeben fertiggestellt habe, anzuzweifeln. Denn: Jemand muss doch etwas unternehmen in dieser Welt!
Quelle
Khema, A. (o. A.) Achtsamkeit auf Stimmung und Gedankeninhalt. https://www.youtube.com/watch?v=RTgMo9y8vzQ.
Mander, J., & Blanck, P. (2018). Achtsamkeit in der Psychotherapie. Psychotherapeut, 63, 251-264. https://doi.org/10.1007/s00278-018-0286-0.
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