Eine wissenschaftliche Perspektive auf die Klientel meiner Praxis

Im April 2024 schrieb mich ein Forscher einer deutschen Universität an, mit der kollegialen Bitte um Unterstützung: Konkret beabsichtigte N. Specht von der Universität Witten/Herdecke, etwaige Zusammenhänge zwischen dem Erleben potenziell traumatischer Ereignisse und diverser pathologischer und nicht-pathologischer Persönlichkeitseigenschaften herzustellen; wofür er eine zumindest dreistellige Stichprobe benötigte. Bereits 2022 schlug Specht - basierend auf einer früheren Arbeit von Hurt und Kollegen - vor, die Borderline Persönlichkeitsstörung (eine schwere psychische Störung, die durch Defizite in der zwischenmenschlichen Interaktion gekennzeichnet ist) in drei Subtypen zu unterteilen: (1) Den Identitäts-, (2) den Affekt- und (3) den Impuls-Subtyp.

Der Identitäts-Subtyp würde - so der Vorschlag - mit einer ausgeprägten Identitätsunsicherheit einhergehen: “Wer bin ich? Worin bestehen meine langfristigen Ziele? Ich fühle mich so leer und kann auch gar nicht allein sein!”. Der Affekt-Subtyp würde sich durch instabile und zugleich intensive zwischenmenschliche Beziehungen auszeichnen: Ausgeprägte Sprünge in den Einstellungen, in den Gefühlen (unangemessener, heftiger und unkontrollierbarer Zorn) und starke Stimmungsschwankungen. Der Impuls-Subtyp schließlich wäre von Impulsivität und Unberechenbarkeit geprägt, letztere die ihren Ausdruck in selbstschädigendem Verhalten finden würden: In exzessivem Glücksspiel, Gebrauch von Substanzen, Ladendiebstahl, promiskuitiver Sexualität und exzessivem Pornografie-Konsum sowie Selbstverstümmelung. Der empirische Nachweis für eine solche Unterteilung in drei Cluster steht bislang natürlich aus und sollte Inhalt der von Specht vorgeschlagenen Forschung sein.

In meiner Arbeit mit Borderline PatientInnen konnte ich Merkmale sämtlicher der drei genannten Cluster feststellen. Ich erachtete die von Specht erhobene Forschungsfragen als für meine tägliche Arbeit sehr relevant, weswegen ich dem Forscher meine Unterstützung zusagte und nahezu alle Personen auf die Online-Befragung hinwies, die sich zum damaligen Zeitpunkt bei mir in psychotherapeutischer Behandlung befanden (näherungsweise um die hundert). Davon folgten 29 Personen allen Alters, Geschlechts und aller Diagnosen meiner Bitte und nahmen an der Befragung teil. Im Anschluss werde ich die Ergebnisse der statistischen Auswertung zusammenfassen, wie sie mir Specht am 2. Oktober in einer persönlichen Mitteilung zukommen ließ.

Stichprobe und Methode

Die Gesamtstichprobe bestand aus 414 Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Neben demografischen Fragen (wie Alter, Geschlecht etc.) bearbeiteten die TeilnehmerInnen auch Fragebögen zur Persönlichkeit, zur Erhebung narzisstischer Facetten, zur Erhebung von Borderline, zur Erfassung von Wut und zur Erfassung potenziell traumatischer Ereignisse in der Biografie. Anhand der Antworten zu traumatischen Ereignissen wurden die Personen anschließend in vier Gruppen unterteilt: (1) Menschen mit in der Vergangenheit zufällig aufgetretenen Traumata (wie z. B. Naturkatastrophen, Autounfällen u. Ä.), (2) Personen mit interpersonellen (d. h. zwischenmenschlichen) Traumata, (3) Menschen ohne jegliches Trauma und (4) Personen mit multiplen Traumata. Mit statistischen Methoden wurde dann im Anschluss überprüft, ob sich die vier Gruppen hinsichtlich der Messungen zu Persönlichkeit, Narzissmus oder Borderline voneinander unterschieden. In diesem letzten Schritt zeigten sich lediglich in Hinsicht auf die Borderline-Symptombelastung signifikante Unterschiede zwischen den vier Trauma-Gruppen: Bei Vorliegen multipler und interpersoneller Traumata wiesen die Personen höhere Belastungswerte auf, bei zufällig aufgetretenen oder keinen nachweisbaren Traumata waren dieselben Werte niedrig.

Specht überprüfte in einem zweiten Schritt auch die Fragestellung, ob sich die Gruppe der Borderline-Personen anhand der erhobenen Persönlichkeits-, Narzissmus- und Wut-Symptome in Untergruppen (Cluster) unterteilen ließen: Dabei konnte er ein (1) impulsives/aggressives, (2) ein dysphorisches und (3) ein Cluster niedriger Pathologie nachweisen. Das impulsive/aggressive Cluster zeichnete sich durch erhöhte Feindseligkeit, Impulsivität und Wut, die nicht als zu sich selbst gehörend erlebt wird, aus. Das dysphorische Cluster war von Dysphorie geprägt, während das Cluster mit niedriger Pathologie von einer geringeren Symptombelastung, weniger Auto-Aggression und weniger sozialer Isolation gekennzeichnet war.

Der Forscher zog den Schluss, dass sich die Borderline-Personen in einen eher externalisierenden und einen eher internalisierenden Typ unterteilen lassen. In einem Zusatz merkte Specht an, dass die Österreichische Borderline-Gruppe (d. h. die ProbandInnen aus meiner Praxis) - anders als die Borderline-Gruppe aus anderen Ländern - gegenüber der Kontrollgruppe keine erhöhte Ängstlichkeit und kein verringertes narzisstisches Streben nach Bewunderung hatte bzw. überraschend wenige potenziell traumatische Ereignisse berichteten.

Die Ergebnisse, wie in der persönlichen Nachricht von Specht berichtet, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt des Verfassens des vorliegenden Blogs noch nicht peer-reviewed.

Literatur

Hurt, S. W., Clarkin, J. F., Widiger, T. A., Fyer, M. R., Sullivan, T., Stone, M. H. & Frances, A. (1990). Evaluation of DSM-III decision rules for case detection using joint conditional probability structures. Journal of Personality Disorders, 4(2), 121–130. doi:10.1521/pedi.1990.4.2.121

Specht, N. (2022). Einführung des Spektrums instabiler Störungen: Rekonzeptualisierung der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, 43(2), 147–171.

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Der Einfluss von Achtsamkeit auf die Stimmung aus Sicht der Buddhistischen Lehre