Psychotherapie Oststeiermark

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Mentalisation und Psychotherapie

In diesem Blog möchte ich gern Psychotherapie und die Fähigkeit zur Mentalisation miteinander in Verbindung bringen. Dazu werde ich kurz die Bedeutung von letzterer erläutern und in weiterer Folge erklären, warum Forscher diese herausragende, den Menschen vorbehaltene Fähigkeit ursächlich mit vielen psychischen Leidenzuständen in Verbindung gebracht haben. Abschließend möchte ich aufzeigen, in welcher Form Psychotherapie diese Fähigkeit fördern kann und wie sich eine verbesserte Mentalisation auf unsere psychische Gesundheit auswirken kann.

MENTALISATION

Die Mentalisation drückt sich in der Reflexionsfunktion aus: Diese ermöglicht es uns, das Verhalten anderer Menschen in unsere eigenen Vorstellungen über deren Überzeugungen, Gefühle, Einstellungen, Wünsche, Hoffnungen, Pläne, Lügen, unterstellte Absichten etc. einzubetten. Wenn Sie begreifen möchten, was mit dieser Definition gemeint ist, dann stellen Sie sich bitte kurz vor, wie eine Ihnen nahestehende Person (beispielsweise Ihre Cousine Linde) Ihrer persönlichen Einschätzung nach zum Thema Umwelt steht; halten Sie Linde für engagiert? Glauben Sie, die Cousine fliegt nur einmal im Jahr in den Urlaub, weil sie ihren Beitrag zum Ausstoß schädlicher Emissionen reduzieren möchte? Denken Sie, Linde würde aus Umweltgründen nachhaltige Kleidung bevorzugen? Oder fährt sie einfach auf Markenklamotten ab und ignoriert dabei die derzeit leidenschaftlich geführte Debatte rund um Nachhaltigkeit und Ressourcen? Wenn Sie diese Fragen rund um Linde für sich selbst beantwortet haben, dann fragen Sie sich bitte im zweiten Schritt, ob sich das von Ihnen tatsächlich beobachtete Verhalten Ihrer Cousine Linde auch mit der Vorstellung deckt, die Sie sich im ersten Schritt von ihr gemacht haben. Und nun kommt der springende Punkt: Je mehr sich nämlich das tatsächliche Verhalten Ihrer Cousine Linde von Ihrer eigenen Vorstellung über Linde abhebt, als desto weniger vorhersagbar erleben Sie Lindes Verhalten. Ist es aber nicht gerade die Verlässlichkeit der Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens, die uns das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit vermittelt? Anders gefragt: Würden Sie sich einem Menschen anvertrauen, dessen Verhalten Sie nicht oder nur kaum vorhersagen können? Wenn ja, dann gehen Sie wahrscheinlich ein hohes Risiko ein und wurden in Ihren Wünschen und Hoffnungen vielleicht schon mehrfach enttäuscht.

Es entspricht (auch) meiner persönlichen Beobachtung, dass sich Menschen stark in ihrer individuellen Fähigkeit unterscheiden, das Verhalten anderer Menschen vorhersagen zu können, und Forscher haben sich mit der Frage nach den Ursachen für diesen Umstand beschäftigt. Gestoßen sind sie dabei auf die frühen Erfahrungen mit anderen Menschen, sprich mit unseren ersten Bezugspersonen in der Kindheit. Ende der 1990er Jahre stellte man Kindern im Alter von fünfeinhalb Jahren folgende Frage: “Wenn Elli glaubt, dass in der Dose Cola ist, und wenn Elli Cola mag, wird sie dann aus der Dose trinken wollen - obwohl in Wirklichkeit Milch drinnen ist?” Wie würde Ihre eigene Antwort auf diese Frage ausfallen? Um die Frage richtig beantworten zu können, müssen Sie sich in Elli hineinversetzen und verstehen, dass Elli nicht wissen kann, dass sich in der Dose Milch anstatt Cola befindet, sodass sie sehr wahrscheinlich aus der Dose trinken wird. Bevor man die Kinder im Experiment mit dieser Frage konfrontierte, ermittelte man vorab, ob die Kinder eine “sichere” oder eine “unsichere” Bindung mit der Mutter hatten. Das Ergebnis der Studie überzeugte: 82% der sicher gebundenen Kinder konnten die Aufgabe richtig lösen, indes lediglich 46% der unsicher gebundenen Kinder die Frage richtig beantworteten. Durch dieses und viele weitere Experimente konnte der Beleg dafür erbracht werden, dass die frühkindliche Bindung zur Mutter einen direkten Einfluss auf die Fähigkeit der inneren Perspektivübernahme und damit auf die Fähigkeit zur Mentalisation hat. Die Fähigkeit zur Mentalisation bedingt aber die Fähigkeit zur Affektregulation, Impulskontrolle und Selbstbeobachtung sowie zur Erfahrung der Urheberschaft des Selbst - den Bausteinen der Organisation des Selbst.

Psychotherapie und die Fähigkeit zur Mentalisation

Heißt das nun, dass Menschen, die in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine unsichere Bindung zu ihren Bezugspersonen hatten, für den Rest ihres Lebens dazu verdammt sind, das Verhalten anderer Menschen nur kaum bis unzureichend vorhersagen zu können? Die Antwort auf diese Frage lautet “Nein”! Forscher haben nämlich herausgefunden, dass die Fähigkeit zur Mentalisation eng mit dem “limbischen System” im Gehirn verbunden ist, deren untere Ebene in der Hauptsache angeboren ist; sie bestimmt unser Temperament. Die mittlere limbische Ebene wird durch frühkindliche Bindungserfahrungen geprägt, sie beherbergt das Verstehen und Differenzieren von Gefühlen anderer Menschen. Defizite, die infolge früher Bindungsdefizite oder auch Traumen entstehen, sind wahrscheinlich in dieser Region des Gehirns angesiedelt. Die obere limbische Ebene schließlich hängt mit Impulshemmung, Belohnungsaufschub, Frustrationstoleranz, Empathie und Risikoeinschätzung zusammen und entwickelt sich ein Leben lang in Interaktion mit dem sozialen Umfeld. Die limbische Regionen profitieren im Kindesalter vom gemeinsamen Als-Ob-Spiel, von Gesprächen über Gefühle und über die Beweggründe von Handlungen sowie von der Interaktion mit gleichaltrigen Kindern (Fonagy et al., 2004), und dieser Lernmechanismus bleibt über das gesamte Leben erhalten. Die psychotherapeutische Arbeit besteht im Wesentlichen aus den genannten Punkten: Sie bietet (beispielsweise in der psychodramatischen Aufstellungsarbeit) das Als-Ob-Spiel. Es wird über vergangene Erlebnisse und über die damit verbundenen Gefühle gesprochen. Und schließlich erfahren Menschen in der psychotherapeutischen Gruppe Nähe, sodass die Erfahrung von Geborgenheit und Sicherheit gemacht werden kann.

1. Ich finde die Gedanken anderer verwirrend.

2. Ich weiß nicht immer, warum ich tue, was ich tue.

3. Wenn ich wütend werde, sage ich Dinge, ohne wirklich zu wissen, warum ich sie sage.

4. Wenn ich wütend werde, sage ich Dinge, die mir später leidtun.

5. Wenn ich mich unsicher fühle, verhalte ich mich auf eine Weise, die andere irritieren kann.

6. Manchmal tue ich Dinge, ohne wirklich zu wissen warum.

7. Ich weiß immer, was ich fühle.

8. Starke Gefühle machen es mir oft schwer, klare Gedanken zu fassen.

Mit dem RFQ-8 gibt es übrigens einen sehr kurz gehaltenen Fragebogen von Fongagy et al. (2016), bestehend aus nur acht (sehr prägnanten) Fragen zum Thema Mentalisation. Jede dieser Fragen (siehe Text rechts) wird auf einer siebenstufigen Skala beantwortet, deren unteres Ende (Zahlenwert 1) “Ich stimme gar nicht zu” und deren oberes Ende (Zahlenwert 7) “Ich stimme völlig zu” entspricht. In Abhängigkeit, wie sich eine Person selbst einschätzt, kann man auch auf deren Fähigkeit zur Mentalisation Rückschlüsse ziehen bzw. ersehen, ob jemand tendenziell eher “über-” oder “unter-mentalisiert”. “Unter-Mentalisation” weist in vielen Forschungen einen hohen Zusammenhang mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie mit selbstverletzendem Verhalten auf. Im Fragebogen drücken Personen dann eher ihre persönliche Unsicherheit über inneres Erleben aus (“Au weia, was denkt der jetzt gerade?”). Dem gegenüber stellt “Über-Mentalisation” eher einen Hinweis auf eine Essstörung dar: Personen drücken im Fragebogen dann eher eine “überzogene” Sicherheit über ihr inneres Erleben dar, die aber in Wahrheit nicht realistisch erscheint (“Ich weiß ganz genau, was du jetzt denkst!”).

 

Literatur

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L. & Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.

Fonagy P., Luyten P., Moulton-Perkins A., Lee Y. W., Warren F., Howard S., Ghinai R., Fearon P. & Lowyck B (2016). Development and Validation of a Self-Report Measure of Mentalizing: The Reflective Functioning Questionnaire, PLoS One, 11(7).

Roth, G., & Strüber, N. (2014). Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Nikolas Anastasiadis